Eine Weihnachtsgeschichte…

STOFFTASCHENTUCH.CH | Herz im Schnee

Es war noch ganz früh am Weihnachtsmorgen, als Delia ihre Tasche für den Schultag zu packen begann. Wie immer gehörten neben ihren Schulsachen auch ein gutes Buch für den Schulweg im Zug, ihr Necessaire und ein Stofftaschentuch mit in die Tasche. Das war eine Angewohnheit von ihr: Ohne ihr Stoffnastuch ging Delia nie aus dem Haus. Sie sah es schon fast als Glücksbringer: Vergass sie es, gab es ganz bestimmt eine Gelegenheit, bei der sie es gebraucht hätte. Hatte sie es dabei, lief eigentlich immer alles bestens. Delia eilte nach unten in die Küche, schnappte sich ein Stück Brot vom Küchentisch, drückte ihrer Mutter Mauve einen Kuss auf die Wange und eilte ins Nebengebäude.

Hier, in der Werkstatt, war ihr Vater Leo schon fleissig bei der Arbeit. Er restaurierte selber Möbel aus Holz, die er dann an seine Kunden verkaufte. Leo wischte sich gerade mit seinem Stofftuch den Schweiss von der Stirn, bevor ihm seine Tochter einen Abschiedskuss auf die Wange drücken konnte. „Bis später, mein Schatz. Du bist zum Abendessen doch wieder zuhause?“, fragte er. „Hmm… mal schauen…“ wich Delia aus, und winkte ihrem Vater zum Abschied zu, bevor sie zum Bahnhof eilte.

STOFFTASCHENTUCH.CH | Werkstatt

Eigentlich wollte sie nämlich direkt von der Schule zu einem Kollegen nach Hause, und dann mit diesem und weiteren Freunden gemeinsam zur Weihnachtsparty in einer beliebten Disco in der Stadt.

Als sie durch die Unterführung am Dorfrand und dann wieder hoch zu den Gleisen rannte, warf sie einen schnellen Blick in Richtung der Abfahrtstafel. Puh, zum Glück, ihr Zug war noch nicht da! Doch was war denn das, oben am Himmel? Hatte sie da gerade eine Sternschnuppe gesehen? Sicher ist sicher, dachte sich Delia, und schickt einen Wunsch zum Himmel. Dann sprang sie in den Zug. Nur in einem Abteil sassen drei ältere Männer mit verpackten Geschenken, eifrig in ein leises Gespräch vertieft.

STOFFTASCHENTUCH.CH | Erinnerung

Delia lief zum Ende des Waggons, schälte sich aus Jacke und Schal, setzte sich hin und begann zu lesen. Nach und nach füllte sich der Zug, doch Delia war so vertieft in ihr Buch, dass sie das überhaupt nicht störte. Plötzlich erhoben sich viele Leute von ihren Sitzen, Bewegung kam in die morgendliche Menschenmenge und Delia schaute abgelenkt von ihrer Lektüre hoch. Auweia, das war ja schon ihre Station! Eilig griff sie sich Jacke und Schal, warf sich ihren Rucksack auf den Rücken, klemmte das Buch unter den Arm und rannte aus dem Zug. Gerade noch rechtzeitig! 

Der Schultag verlief wie immer, ausser, dass die Schule früher aus war, weil ja Weihnachten war. „Kommst du noch mit zu mir und danach zur Party?“, fragte Sammy, Delias Kollege. Für einen kurzen Moment zögerte Delia. Sie wusste, dass ihre Eltern sich freuen würden, wenn sie den Weihnachtsabend mit ihnen verbringen würde, doch sie wohnten auf dem Land und wenn sie fürs Abendessen nach Hause fahren würde, würde sie anschliessend sicher nicht noch einmal in die Stadt fahren. „Klar, ich komme mit!“. Gemeinsam bestieg die Clique den Bus und fuhr los zu Sammys Wohnung. Als sie ausstiegen, verliess gleichzeitig eine Mutter mit ihrem Kind den Bus. Der Junge rutschte aus, fiel hin und verlor auch noch seinen Plüschesel, der natürlich genau in einer Pfütze aus Schnee und Matsch landete. Der Junge begann ganz fürchterlich zu weinen.

Reflexartig griff Delia nach ihrer Tasche, um dem Kind mit ihrem Stofftaschentuch die Tränen abzutupfen. Doch sie fand das Taschentuch nicht, und schon war die Mutter mit dem Kind in die andere Richtung davongeeilt. Delias Freunde packten sie am Arm und zogen sie weiter, und bald schon waren sie bei Sammy zuhause angekommen, hörten Musik und freuten sich auf die bevorstehende Party. Als Delia sich vor den Spiegel setzte, um ihr Makeup aufzufrischen, fiel ihr erneut auf, dass ihr Stofftaschentuch fehlte. Sie kippte den Inhalt ihrer Tasche auf dem Boden aus und suchte in allen Fächern der Tasche, doch das Tuch blieb verschwunden.

Ein kleiner Stich in ihrer Magengrube verursachte Delia ein nagendes Gefühl der Unruhe.

Das Taschentuch war eines von ihrer Oma gewesen, mit feiner Spitze am Rand, blütenweiss und weich und es roch noch immer ganz fein nach Omas Waschmittel, wenn sie es an ihre Nase hielt und tief einatmete. Ihre Oma war vor einigen Jahren verstorben. Delia vermisste sie noch immer sehr.

Ihre feiernden Freunde gerieten in den Hintergrund, während Delia all ihre Jacken- und Kleidertaschen durchsuchte. Das Tuch war weg. „Was ist denn los, Delia, suchst du den Sinn des Lebens?“ scherzte Luigi, der bemerkt hatte, wie verzweifelt Delia in ihrer Tasche wühlte. „Ich suche mein Taschentuch!“ antwortete diese, halb empört, halb beleidigt. „Ach komm, das taucht schon wieder auf!“ lachte Luigi, und versuchte, Delia mit seinen Spässen aus ihrem Trübsinn zu reissen. Doch Delia hatte schon immer auf Zeichen geachtet, und vielleicht war der Verlust des geliebten Tuches ja ein Zeichen, nicht mit zur Party zu gehen?

STOFFTASCHENTUCH.CH | Sterne

Und überhaupt, war da nicht auch ein Stern am Himmel gewesen? Und die drei Männer im Zug? Und dann auch noch das Kind mit dem Esel? Delia schüttelte sich und schalt sich selber einen Dummkopf, dass sie sich von diesen wirren Gedanken so verrückt machen liess. Bestimmt hatte sie das Tuch am Morgen im Zug mit dem Buch aus der Tasche gezogen und in der Eile beim Verlassen dann vergessen. Delia lieh sich ein tolles Kleid von Sammys Schwester, machte sich mit ihren Freunden bereit und verliess das Haus, um zur Party zu gehen. Die Freunde bestiegen den Bus und gingen ganz nach hinten zur hintersten Sitzreihe durch. Delia ging zuvorderst, und so war sie auch die erste, die es sah: 

Auf der hintersten Sitzreihe, ganz beim Fenster, lag ein blütenweisses, hübsch gefaltetes Taschentuch mit Spitzenrand. Ungläubig hob sie es hoch und roch daran. Es war tatsächlich ihr eigenes Taschentuch, das sie verloren hatte. Wie war das Taschentuch nur dahin gekommen? Hatte es jemand anders gefunden, mitgenommen und ebenfalls wieder verloren? Genau in diesem Bus, den sie jetzt bestiegen hatte? Das wäre ja ein unglaublicher Zufall! Oder war es vielleicht doch… ein Zeichen?

Delia schaute aus dem Fenster, in dem sich ihr Gesicht etwas verzerrt spiegelte. Und für einen kurzen Moment sah sie nicht nur sich selber, sie sah in ihrem Spiegelbild auch das Gesicht ihrer Mutter, und dann das ihrer Oma, und beide lächelten warm. Die Entscheidung fiel Delia jetzt sehr leicht. Sie verabschiedete sich von ihren Freunden, mit denen sie einen tollen Nachmittag verbracht hatte, und fuhr zu ihrer Familie nach Hause.

Das nagende Bauchgefühl änderte sich schnell, es wurde zu warmer Vorfreude und liess Delia fast nach Hause rennen. Ihre Mutter lächelte überrascht, als Delia zur Tür reingepoltert kam, und ihre Augen leuchteten. Sie nahm Delia ganz fest in die Arme. „Frohe Weihnachten, mein Kind.“, flüsterte sie in ihr Haar. Auch Papa Leo freute sich sehr und umarmte Delia von ganzem Herzen. Delia lachte. Sie hatten wohl beide nicht damit gerechnet, dass Delia den Weihnachtsabend mit ihnen verbringen würde. Dennoch war der Tisch für drei Personen gedeckt. Der Gedanke, wie ihre Eltern beinahe nur zu zweit am gedeckten Tisch gegessen und auf sie gewartet hätten, brach Delia fast das Herz.

Nun aber waren sie zusammen, sie lachten, assen, sangen zusammen unter dem Christbaum richtig laut und schief „Last Christmas“ und blätterten durch alte Familienalben. Es wurde ein wunderschöner Familien-Weihnachtsabend und Delia wusste, dass sie sich an diesem Abend richtig entschieden hatte. 

Und dies, liebe Freunde, ist nun also die Geschichte, wie ein weisses Stofftaschentuch es geschafft hat, das Weihnachtsfest einer kleinen Familie zu retten. 

Wir wünschen allen frohe, besinnliche Festtage, zusammen mit den Liebsten und vielleicht, wer weiss, mit einem hübschen Nastuch unter dem Weihnachtsbaum!

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